EU-Binnenmarktstrategie

Europäische Kommission stellt Maßnahmen für einen einfachen, einheitlichen und stärkeren innereuropäischen Handel vor

Am 21. Mai 2025 hat Stéphane Séjourné, Kommissar für Industrie, KMU und Binnenmarkt, die Binnenmarktstrategie der Europäischen Kommission unter dem Titel „The Single Market: our European home market in an uncertain world“ vorgestellt. Die Themen Recycling und Kreislaufwirtschaft werden in dieser Strategie als wesentliche Mittel anerkannt, um den Europäischen Binnenmarkt unabhängiger von Drittstaaten zu machen.

 

Hintergrund
Am 17. Februar 1986 unterzeichneten die damaligen Europäischen Mitgliedstaaten einen Änderungsvertrag zur Durchsetzung der sog. Einheitlichen Europäischen Akte. Darin war vorgesehen, einen Großteil der rechtlichen Handelsbarrieren unter den Mitgliedstaaten bis 1992 zu beseitigen. Der 1. Januar 1993 gilt daher als Stichtag für die Gründung des Europäischen Binnenmarktes.

Mehr als 30 Jahre später ist der Europäische Binnenmarkt mit 26 Millionen Unternehmen und einem BIP von insgesamt 17 Billionen Euro der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Dennoch bestehe trotz oder gerade wegen eines jährlichen Wachstums von „nur“ 1% des BIP erhebliches Steigerungspotential, so die Europäische Kommission in der Einleitung zur Binnenmarktstrategie. Dieses Potential gelte es in einer Zeit, die von immer mehr wirtschaftlichem Protektionismus geprägt ist, zu nutzen. So wird auch im Draghi-Bericht von 2024 die Bedeutung eines integrierten Binnenmarktes für die Wettbewerbsfähigkeit der EU betont.

Die aktuelle Zoll-Politik von US-Präsident Trump werde voraussichtlich zu einem Rückgang von 20% der EU-Exporte in die Vereinigten Staaten führen. Diese Einbußen könnten bereits durch eine Wachstumsrate von 2,4% des Europäischen Binnenmarktes „aufgefangen“ werden.  Dazu brauche es allerdings konkreter Maßnahmen, die in der Strategie adressiert werden sollen.


Fünf Handlungsfelder
In der Strategie werden fünf Bereiche bzw. Kapitel genannt, in denen Reformbedarf besteht und in denen bestimmte Maßnahmen zu treffen sind:

1. Abbau von Marktbarrieren – die „Terrible Ten“
Die Europäische Kommission nennt zehn bürokratische Hindernisse für Unternehmen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben:
 

  1. Ein überkomplexes EU-Regelwerk für Unternehmen.
  2. Mangelnde Eigenverantwortung der
  3. Mitgliedstaaten auf dem Binnenmarkt.
  4. Komplizierte Unternehmensgründungen und -erweiterungen.
  5. Beschränkte gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen.
  6. Verzögerungen in Normungsprozessen.
  7. Fragmentierte Vorschriften für Verpackungen, Kennzeichnung und Abfälle.
  8. Veraltete Produktvorschriften sowie
  9. mangelnde Produktkonformität.
  10. Divergierende nationale Regelungen im Dienstleistungssektor.
  11. Belastende Verfahren für die zeitweise Arbeitnehmerentsendung.
  12. Territoriale Angebotsbeschränkungen in Einzel- und Großhandel.


Der erste Punkt der Terrible Ten, das Problem eines überkomplexen Regelwerkes, ergebe sich vor allem daraus, dass die Umsetzung vieler EU-Vorgaben noch immer Sache der Mitgliedstaaten sei, was Unternehmen vor rechtliche Unsicherheiten bei grenzüberschreitenden Geschäften stelle.  Dies gelte nicht zuletzt im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens: während einige Mitgliedstaaten bei der Vergabe von Bauleistungen etwa verbindliche Anforderungen an die Reduzierung von CO2-Emissionen in Bauprodukten eingeführt hätten, setzten andere Staaten hier eher auf Freiwilligkeit der Unternehmen. Dies erschwere eine ganzheitliche Planung der Wirtschaftsakteure für den gesamten EU-Raum.

Das wichtigste Gesetzesvorhaben, um solche Divergenzen zu überwinden, sei das Digitale Omnibus-Paket, das zu schnelleren Genehmigungs- und Vergabeverfahren führen soll und von dem sich die Europäische Kommission gerade im Bereich der erweiterten Herstellerverantwortung Erleichterungen verspricht.

Um die Verantwortung und den Einfluss der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Implementierung des Europäischen Binnenmarktes zu stärken, soll jeder Mitgliedstaat aus seinen Regierungskreisen einen sog. „Binnenmarkt-Sherpa“ benennen. Diese Sherpas sollen in regelmäßigen Zusammenkünften die Umsetzung bestehender EU-Vorgaben koordinieren. Das erste Treffen soll bereits in Q4 2025 stattfinden.

Zu erwähnen ist auch der Europäische Sozialversicherungsausweis, der ebenfalls in Q4 2025 eingeführt werden und grenzüberschreitende Arbeitnehmerentsendungen erleichtern soll.

Im Hinblick auf die Kreislaufwirtschaft ist vor allem der sechste als Hindernis identifizierte Punkt interessant: Fragmentierte Vorschriften für Verpackungen, Kennzeichnungen und Abfälle. Das bereits im Rahmen der Verpackungsverordnung gesetzte Ziel, eine EU-weit einheitliche Kennzeichnung zu etablieren, ist besonders aus der Sicht der Produzenten relevant. Diese müssen ihre Verpackungen bislang stets auf die Besonderheiten der jeweiligen Mitgliedstaaten abstimmen, was einen beachtlichen Kosten- und Produktionsaufwand verursacht. Auch die Verordnung über die Kennzeichnung von Textilien soll entsprechend überarbeitet und angeglichen werden.

Das Ziel soll jeweils eine digitale Kennzeichnung und die (bereits längerfristig geplante) Umsetzung des Digitalen Produktpasses sein. Der zeitliche Rahmen ist hierzu für Q2 2026 gesetzt.

Wichtigstes Vorhaben aus Sicht der Kreislaufwirtschaft ist jedoch die in der Binnenmarktstrategie erneut geäußerte Absicht der Europäischen Kommission, einen echten Binnenmarkt für Abfälle zu schaffen. Als zentrale Aspekte  werden eine einheitliche Definition des Abfallendes (end of waste) und eine Angleichung der Regeln zur erweiterten Herstellerverantwortung (Extended Producer Responsibility – EPR) genannt. Beides soll im Rahmen des Circular Economy Acts bis Q4 2026 geregelt werden.

Unter dem Circular Economy Act soll auch ein digitaler, EU-weiter One-Stop-Information Point errichtet werden, in dem sich Hersteller registrieren und Informationen abgerufen werden können.

2. Kapitel – Stärkung des Europäischen Dienstleistungssektors
Die Europäische Kommission erkennt den Dienstleistungssektor mit einem Anteil von 75% am BIP als strukturell stärksten Sektor in der EU und wichtigste Branche zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Jedoch stammen der Kommission zu Folge nur 7,6% des BIP aus innereuropäischen Dienstleistungen. Vor allem im Energiesektor und im Bereich der Artificial Intelligence sieht die Kommission großes Wachstumspotential.

Konkrete Gesetzesvorhaben, die insoweit genannt werden, sind unter anderem ein Construction Service Act (Q4 2026), ein Digital Networks Act (Q4 2025) sowie die sich bereits in der Ausarbeitung befindende EU Service Directive.

3. Kapitel – KMU und der Binnenmarkt
Die Europäische Kommission beabsichtigt, mehr „Bewegungsfreiheit“ für KMU zu gewährleisten. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen stellten die bürokratischen Herausforderungen bei Unternehmensgründungen und Niederlassung eine erhebliche Herausforderung dar. Von den sog. „high-growth“ Unternehmen, d.h. Unternehmen, die überdurchschnittlich schnell wachsen, sowohl im Umsatz als auch im Gewinn, planten gerade einmal 24% eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat zu gründen. In enger Zusammenarbeit mit dem Network of SME Envoys, einem Rahmen der Überprüfung des Small Business Act 2011 eingerichteten Beratungsgremiums für KMU-Politik, das sich für KMU-freundliche Rechtsvorschriften und politische Entscheidungen in der EU einsetzt, möchte die Kommission 35% aller regulatorischen Anforderungen für KMU reduzieren.

Außerdem soll eine gesetzliche Definition von Small Midcap Companies (kleine mittelständische Unternehmen) für Unternehmen mit 250 bis 749 Mitarbeitern etabliert werden, welche besseren Zugang zu Förderungen und privaten Investitionen erhalten sollen.

Ein Online-Selbstbewertungstool soll die Registrierung als KMU ermöglichen und bürokratische Anmeldeverfahren ersetzen. Für grenzüberschreitende Geschäfte sollen bereits in Q3 2025 bestehende Regulatorien abgebaut werden. Der KMU-Fonds „Ideas Powered for business“, ein Finanzhilfeprogramm, das KMU in der EU helfen soll, ihre Rechte des geistigen Eigentums zu schützen und der vom Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (European Union Intellectual Property Office, EUIPO) durchgeführt wird, soll auf die Jahre 2026 und idealerweise 2027 ausgeweitet werden.

4. Kapitel – Digitalisierung des Binnenmarktes
Die Chancen der Digitalisierung sollen vor allem genutzt werden, um den Austausch der Mitgliedstaaten untereinander zu vereinfachen. Auch für Unternehmen müsse die Möglichkeit bestehen, Zugang zu wichtigen Informationen und Verfahren auf digitalem Wege zu erhalten. Das sog. Single Digital Gateway soll diese Möglichkeiten bieten und ein EU-weites Datennetzwerk für Behörden und Unternehmen bereitstellen.

Hervorzuheben ist auch die Rolle des Digital Product Passports, welcher erstmals im Rahmen der Ökodesignverordnung geregelt wurde und dessen Bedeutung die Europäische Kommission für die Binnenmarktstrategie betont. Gerade für Verbraucher sollen hier, etwa durch die Verwendung von QR-Codes, produktbezogene Informationen und auch Hinweise zur fachgerechten Entsorgung bereitgestellt werden. Der erste Produktpass soll ab 2027 für Batterien eingeführt werden.

Ein Großteil der in der Binnenmarktstrategie genannten Digitalisierungsvorhaben wird bereits im Rahmen des Omnibus-Verfahrens umgesetzt. Zu nennen ist auch die Revision des New Legislative Framework bis Q2 2026 sowie die Aufnahme von Digitalisierungskriterien bei der Revision des öffentlichen Beschaffungswesens in Q2 und Q4 2026.

5. Kapitel – Durchsetzung der Einhaltung der Binnenmarktregeln
Die bereits genannten Binnenmarkt-Sherpas spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der überarbeiteten Vorschriften in den Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission appelliert an die Mitgliedstaaten, bei der nationalen Gesetzgebung sensibel zu sein in Bezug auf mögliche Hindernisse für den Binnenmarkt. Sie weist auch auf bereits zur Verfügung stehende Beratungsplattformen der Union wie SOLVIT oder auch die bereits bestehende Single Market Enforcement Taskforce hin, die Unternehmen bei rechtlichen Fragestellungen in Bezug auf grenzüberschreitende Aktivitäten helfen sollen.

Das wichtigste Gesetzesvorhaben in diesem Zusammenhang wird der Single Market Barriers Prevention Act sein, der für Q3 2027 angesetzt ist.


Bewertung
Der BDE stimmt mit dem Kurs, den die Europäsiche Kommission mit ihrer Binnenmarktstrategie setzt, überein. Bereits die erkannten Notwendigkeiten – weniger bürokratische Hürden für KMU, Digitalisierung von Verfahren und nicht zuletzt die Einführung eines Digitalen Produktpasses spiegeln langjährige Kernforderungen des Verbandes wider.

Für die Entsorgungs- und Kreislaufwirtschaft deutlich zu begrüßen ist, dass die Europäische Kommission die Fragmentierung des Binnenmarktes für Abfälle als eines der “Terrible Ten “ - Hindernisse für den Binnenmarkt erkennt. Klares Labelling für Verbraucher, eine einheitliche Definition für das Abfallende von Stoffen sowie klare Vorgaben für die erweiterte Herstellerverantwortung sind erforderlich, um einen echten Binnenmarkt für Abfälle, wie er auch in der Strategie selbst benannt wird, zu etablieren. Diese Themen sind allerdings nicht erst seit dem Clean Industrial Deal Teil der politischen Diskussion. Die Europäische Kommission hat hier also nicht das Rad neu erfunden, wird sich aber an dem Zeitplan, den sie in der Strategie präsentiert, messen lassen müssen.

Im Rahmen des Omnibus-Pakets werden die ersten Neuerungen für EPR-Systeme bereits Ende 2025 erlassen. Für den Circular Economy Act, der für das Ende nächsten Jahres angekündigt ist, werden in der Strategie wichtige Regelungsaspekte bekräftigt, was zu begrüßen ist.

 

 

 

 

Download BDE/VOEB Europaspiegel Juli 2025

Yannick Müller

Legal Advisor, Europareferent für Binnenmarkt, Abfall- & Umweltrecht