2024 ist von herausragender Bedeutung für die politische Ausrichtung der zweiten Hälfte dieser Dekade: neben Wahlen in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten – in Belgien, Österreich, Portugal, Litauen, Finnland, Rumänien, Kroatien und der Slowakei, sowie in den deutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen, und Brandenburg – wird auch in den USA ein neuer Präsident und in der EU eine neue Europäische Kommission sowie ein neues Europäisches Parlament gewählt. Aber während bei den Wahlen in den USA ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet wird, scheinen die Mehrheiten, die sich nach der Europawahl 2024 ergeben werden, relativ absehbar zu sein.
Rückblick auf die Europawahlen 2019
Die laufende Legislaturperiode (2019-2024) wurde von der Europäischen Volkspartei (EVP) dominiert. Im Mai 2019 wurden 182 EVP-Abgeordnete ins Europäische Parlament gewählt, die Sozialdemokraten (S&D) gewannen 154 Sitze, während die Liberalen (Renew) 108 und die Grünen (Grüne/EFA) 75 Abgeordnete stellen durften. Die rechten Parteien, die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und die Identität und Demokratie (ID), erhielten jeweils 62 und 73 Sitze. Die Mehrheitsverhältnisse zwischen den zunächst 750, später 705 Europaabgeordneten waren damit klar bestimmt – die EVP wurde stärkste Kraft und konnte im Rahmen zweier “großen Koalitionen fast alle Gesetzesinitiativen aktiv mitbestimmen – entweder gemeinsam mit der S&D-Fraktion und der liberalen Renew-Fraktion oder mit der S&D-Fraktion und den Grünen. Darüber hinaus durfte die EVP auch eines der wichtigsten Ämter der Europäischen Union besetzen: die Präsidentschaft der Europäischen Kommission.
Die europäischen Parteien hatten sich im Vorfeld dem Spitzenkandidatenprinzip verschrieben, d.h., dass vor der Wahl jede Partei einen Politiker für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission nominiert. Die EVP entschied sich damals für Manfred Weber, aber trotz dieser Designation wurde schlussendlich Ursula von der Leyen, ehemalige deutsche Familien-, Arbeits- und Verteidigungsministerin, von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagen und zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt. Nach ihrer Bestätigung und der ihres Kabinetts1 durch die neuen Europaabgeordneten, verkündete von der Leyen im Dezember 2019 die sechs Prioritäten ihrer Legislatur. Von zentraler Bedeutung war hierbei der Green Deal – die erste Priorität –, der die EU zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt in 2050 machen und die Kreislaufwirtschaft antreiben sollte.
Prognose für die Europawahlen 2024
Nach aktuellen Umfragen, Hochrechnungen und Prognosen wird es auch in diesem Juni einen Wahlsieg für die EVP mit 174 Sitzen geben – das entspricht bei 705 Abgeordneten ca. 25 Prozent der Stimmen. Für die Sozialdemokraten wird ebenfalls ein ähnliches Ergebnis wie in 2019 erwartet, mit ungefähr 144 Sitzen im neuen Europäischen Parlament. Die Liberalen werden schätzungsweise 85 Abgeordnete stellen, während die Grünen aktuellen Umfragen zu Folge mit 42 Abgeordneten vertreten sein werden. Die rechten Parteien, EKR und ID, werden derzeit auf 73 und 85 Sitze prognostiziert. Sollten sich diese Vorhersagen bewahrheiten, werden Mitte-Links-Mehrheiten schwieriger und Mitte-Rechts-Mehrheiten einfacher werden. Dadurch würde die EVP an Verhandlungsmacht gewinnen. Auch in Zukunft werden die meisten Entscheidungen durch eine „große Koalition“ aus EVP, S&D und Renew oder den Grünen getroffen werden. Die Mehrheiten – besonders mit den Grünen – wären zwar weniger robust, aber trotzdem machbar. Das Erstarken des rechten Flügels wird sich daher voraussichtlich weniger stark auf die Arbeit des Europäischen Parlaments und die Gesetzgebungsprozesse auswirken, als die gesteigerten Mandate es vermuten lassen.
Dazu könnten auch Friktionen unter den rechten Parteien im Europaparlament beitragen: Die ID-Fraktion hat kürzlich drastische Schritte gegen ihr Mitglied AfD (Alternative für Deutschland) eingeleitet und deren Vertreter von der Fraktion ausgeschlossen. Begründet wurde der Rauswurf mit den AfD-Skandalen, darunter z.B. Korruptionsvorwürfe gegen den AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl Maximilian Krah. Die französische Partei Rassemblement National (RN, ehemals Front National), geführt von Marine Le Pen, hatte sich wiederholt in den letzten Monaten von der AfD distanziert und schlussendlich Ende Mai den Rauswurf angeregt. Darüber hinaus verfolgt sie die Idee, dass der RN nach der Wahl in die EKR-Fraktion wechseln könnte. Ob die EKR-Fraktion den Rassemblement National bei sich aufnehmen wird, ist noch ungewiss – bisher hat Georgia Meloni, Ministerpräsidentin von Italien und Präsidentin der Fratelli d’Italia (stärkste Kraft der EKR), sich mit einer anderen rechten Partei Frankreichs, der Reconquête, verbündet.
Sollte die EVP wie prognostiziert die Europawahl gewinnen, wird sie auch erneut die Präsidentschaft der Europäischen Kommission besetzen dürfen. Unter der Voraussetzung, dass es keinen erneuten ”Coup d’Etat” wie in 2019 durch die Mitgliedstaaten gibt, wird infolgedessen Ursula von der Leyen, die EVP-Spitzenkandidatin, daher eine zweite Amtszeit im Berlaymont (Sitz der Europäischen Kommission) bekommen.
Die politischen Auswirkungen eines zweiten von-der-Leyen-Kabinetts sind noch nicht gänzlich absehbar, aber ihre öffentlichen Auftritte und die allgemeine politische Stimmung lassen erahnen, dass es keinen Green Deal 2.0 geben wird. Ein internes Strategiepapier des Rats der Mitgliedstaaten2 zeigt, dass der Fokus der kommenden Legislaturperiode auf Verteidigungs- und Sicherheitspolitik liegen wird. Der Green Deal, die Klimaziele und -politik werden lediglich peripher und im Zusammenhang mit der Energiewende erwähnt. Darüber hinaus hat sich ein weiteres Thema im politischen Diskurs in den letzten Wochen und Monaten herauskristallisiert: Wettbewerbsfähigkeit. In öffentlichen Auftritten von EU-Politikern, sowie in Reden von von der Leyen ist die Stärkung des Wirtschaftsstandort Europas in den Mittelpunkt gerückt. Gerüchteweise wird vermutet, dass die EVP-Spitzenkandidatin einen Industrial Deal für ihre zweite Amtszeit plant – diese politische Richtung wird von den Wahlprogrammen der europäischen Parteien bestätigt und ist damit insgesamt relativ wahrscheinlich.
Diese grundsätzliche Richtungsänderung ist allerdings nicht das Ende des Green Deals und der ambitionierten EU-Klimaziele. Durch das rasante Tempo der Gesetzgebungsprozesse, das unter der ersten Amtszeit von von der Leyen an den Tag gelegt wurde, wurde der überwiegende Teil des Green Deals, besonders die Initiativen, die die Kreislaufwirtschaft und die Entsorgungs- und Recyclingbranche betreffen, bereits auf den Weg gebracht. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren hat hier in vielen Fällen bereits die Rahmenbedingungen geschaffen, die in der kommenden Legislaturperiode lediglich durch die delegierten und Durchführungsrechtsakte in ihren Details ergänzt werden. Der Green Deal erscheint daher abgesichert und die kommende fünf Jahre werden sich auf die Umsetzung der Regelungen konzentrieren.
1 Die Europäische Kommission setzt sich aus einem Kommissionspräsidenten und (inzwischen) 26 Kommissaren zusammen, die das Kollegium der Kommissare (College of Commissioners) bilden. Jeder Mitgliedstaat stellt einen Kommissar, dem die Arbeitsbereiche durch den Kommissionspräsidenten zugeteilt werden und der vom Parlament bestätigt werden muss.
2 Die Mitgliedstaaten geben die politische Richtung und die Prioritäten der EU vor, an denen sich die Europäische Kommission mit ihrem Arbeitsprogramm für die kommende Legislaturperiode orientieren muss.